Die Friedrich-Schiller-Universität Jena ist deutschlandweit die erste Universität, die eigene Trainer:innen für die Ersthilfeausbildung bei seelischen Krankheiten einsetzt.
Als Katia Levecque und ihr Team von der Universität Gent 2017 ihre bahnbrechende Studie zu psychischen Gesundheitsproblemen unter Promovierenden international veröffentlichten, bekam das Thema „psychische Gesundheit unter Forschenden“ eine bis dahin unbekannte – und ungeahnte – Welle an öffentlicher Aufmerksamkeit. Die Studie der belgischen Arbeits- und Organisationspsycholog:innen zeigte eindrücklich, wie die Promotionsbedingungen an Universitäten zu erhöhten psychischen Gesundheitsproblemen bei Promovierenden beitragen. Auch an der Friedrich-Schiller-Universität Jena gab es zu dem Thema mehrfach Nachfragen und Handlungsaufforderungen von Promovierenden und Postdocs an die Koordinator:innen der Promotionsprogramme.
In Reaktion auf das starke Interesse und den offenkundigen Bedarf organisierte die Universität Jena 2019 eine erste öffentliche Veranstaltung zum Thema „Psychische Gesundheit während der Promotion“ und konnte dafür Katia Levecque als Keynote-Sprecherin gewinnen. In der Folge nahm die Graduierten-Akademie als zentrale Einrichtung für Nachwuchsforschende der Universität Jena das Thema auf: Im Sinne ihres Auftrags, Promovierende und Postdocs strukturell zu unterstützen und zu stärken, organisierte die Akademie Arbeitstreffen in Gent am Institut von Levecque und darüber hinaus am Crick Institut in London, das in Nature über sein Ersthilfeprogramm für psychische Gesundheit (MHFA) berichtet hatte. Während dieser Austauschtreffen wurde schnell klar, dass eine sogenannte MHFA-Infrastruktur die Lücke zwischen Studierendenberatung und professioneller psychologischer Betreuung, wie sie durch das Studierendenwerk des Landes angeboten wird, überbrücken könnte.
MHFA – Was ist Mental Health First Aid?
Das Mental Health First Aid Program (MHFA) ist ein Trainingsprogramm in Erster Hilfe für seelische Gesundheit für nicht-psychotherapeutisch ausgebildete Personen. Es wurde im Jahr 2000 in Melbourne, Australien entwickelt und vermittelt Teilnehmenden verschiedene Techniken, die es Ihnen ermöglichen sollen, Menschen mit psychischen Störungen (oder Suchtproblemen) zu helfen, noch während sich diese entwickeln – oder drohen, nach längeren gesunden Phasen wieder zu erstarken. Das Programm ist weltweit in über 26 Ländern etabliert und an mehr als vier Millionen Ersthelfende vermittelt worden.
Da MHFA-Trainings jedoch für gewöhnlich auf nationaler Ebene organisiert werden, und 2019 in Deutschland keine für ein solches Training akkreditierte Einrichtung existierte, war es zunächst nicht möglich hierzulande eine MHFA-Weiterbildung zu absolvieren, geschweige denn eine eigene Trainerausbildung zu organisieren. Das änderte sich erst 2020 mit der Einrichtung der MHFA Ersthelfer-Kurse für Psychische Gesundheit beim Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.
Eine kleine Gruppe von Wissenschaftsmanager:innen und Koordinator:innen der Friedrich-Schiller-Universität war unter den ersten Personen deutschlandweit, die im Winter 2020 ihre MHFA-Zertifizierung in Mannheim erhielten. Seitdem hat die Friedrich-Schiller-Universität ein eigenes, stetig wachsendes Unterstützer:innenteam für Promovierende, Postdocs und zunehmend auch für Führungskräfte am Hochschulort.
Keine Diagnose, sondern Zuhören und Vermitteln – MHFA in der Praxis
„Unsere unmittelbare Erfahrung hat uns gelehrt, dass MHFA äußerst effektiv funktioniert“, bekräftigt Hendrik Huthoff, Koordinator der Jena School for Microbial Communication und Gründungsmitglied des MHFA-Teams. „Wir bekommen regelmäßig Anfragen für Beratungen. Die Probleme reichen von depressiven Verstimmungen wegen der pandemisch-bedingten Dauerisolation, über wiederkehrende psychische Störungen, die früher schon einmal diagnostiziert wurden und nun wiederaufkommen, bis hin zu Problemen die ganz konkret aus dem Druck und den Anforderungen entstehen, die das Schreiben der Promotion und die Prüfungen dazu begleiten. Diese Gespräche können schwer sein, aber wir sind darin ausgebildet, sie so zu führen, dass die Betroffenen davon profitieren können. Wir haben mehrfach Rückmeldungen bekommen, die uns bestätigen, dass die Beratung sehr hilfreich war und das Problem gelöst werden konnte.“ Anne Knierim, Koordinatorin der Jena School of Molecular Medicine, bestätigt: „Viele der Fälle, in denen wir um Hilfe gebeten wurden, betrafen sehr spezifische und zeitlich eingrenzbare Probleme, bei denen vor allem ein aktives Zuhören mit offenen Ohren und einer objektiven Sicht auf die Dinge gefragt waren. Wir sind als psychische Ersthelfer:innen nicht dazu da, psychische Krankheiten zu diagnostizieren, sondern dafür, Menschen in seelischen Nöten dabei zu helfen, die für sie richtigen Hilfsangebote zu finden. Das kann ein:e Psychotherapeut:in sein, ein:e Hausärzt:in oder eine bestimmte Gruppe von ähnlich betroffenen Menschen. Aber in nicht wenigen Fällen ist ein Gespräch mit uns schon ausreichend.“
Immer häufiger, so beobachtet das Ersthilfe-Team, gibt es auch Anfragen zur Unterstützung von Kolleg:innen oder Bekannten, die eine seelische Krise oder Störung durchleben. Auch Betreuer:innen sind darunter, die sich zum Beispiel über ihre Promovierenden, Studierenden oder Postdocs Sorgen machen. Die Sorge um die Nächsten ist nachvollziehbar, aber Erste Hilfe als indirekte „Hilfe für Andere“ hat Fallstricke: „Die psychologische Ersthilfe lehrt uns, dass vor jeder Hilfestellung bei psychischer Belastung erst einmal der eigene Wille der Betroffenen stehen muss, eben auch um Hilfe zu bitten oder sie anzunehmen. Ihnen die erste Hilfe ‘aufzuzwingen‘, das funktioniert nicht“, bemerkt Knierim. Im Zuge des Ausbaus des MHFA-Angebots an der Universität Jena überlegen die Ersthelfer:innen deshalb, zusätzliche Angebote für Betreuungspersonen zu entwickeln, die Unterstützung im Umgang mit Verdachtsfällen bei Studierenden oder anderen Nachwuchsforschenden bieten.
Erste Hilfe für Seelische Gesundheit – ein wachsendes Netzwerk in Jena und Deutschland
Das MHFA-Angebot beschränkt sich in einer ersten Phase auf Nachwuchsforschende vor Ort, aber das soll sich bald ändern: Auch unter Studierenden und Beschäftigten der Hochschule gibt es ganz klar einen hohen Bedarf für Unterstützung, der sich durch die Covid 19-Pandemie noch einmal verstärkt hat und wohl auch in der aktuellen gesellschaftlichen Krise in Folge des Ukraine-Kriegs sicherlich weiter wachsen wird. Jena hat daher als erste Universität deutschlandweit beschlossen, eine Anzahl von Multiplikator:innen einzusetzen, die nach ihrer Zertifizierung als Trainer:innen vor Ort weitere Ersthelfende für psychische Gesundheit ausbilden. So entsteht ein flächendeckendes Netzwerk für psychische Ersthilfe in allen Bereichen und für alle Angehörigen der Universität.
Der Blick auf die seelische Gesundheit von Universitätsangehörigen ist in Jena nicht ungewöhnlich: Die Gesundheit ist neben dem Konzept der Achtsamkeit fester Bestandteil des Gesundheitsangebots der Friedrich-Schiller-Universität sowie in zahlreichen Fachbereichen wie auch fachübergreifend Forschungsgegenstand der Jenaer Wissenschaft. Im Dezember 2021 fand an der Universität Jena zum ersten Mal die Mental Health Action Week statt, die eine Vielzahl von Angeboten und Informationen zum Thema Psychische Gesundheit zusammenbrachte und neben Achtsamkeitstrainings, Lachyoga, dem Forum „Psychisch Fit Studieren“ von Irrsinnig Menschlich e.V. und mehreren Vorträgen betroffener Wissenschaftler:innen auch das MHFA-Programm noch einmal einer breiteren Universitätsöffentlichkeit vorstellte. Die Mental Health Action Week soll als Veranstaltungsreihe jährlich wiederholt werden.
Aktuell erreichen das MHFA-Team verstärkt Nachfragen aus anderen deutschen Universitäten – auch, weil Hendrik Huthoff als Co-Vorsitzender der UniWiND-Arbeitsgruppe Mentale Gesundheit das Thema deutschlandweit vertritt. „Für 2022 planen wir die Herausgabe eines Whitepapers mit Empfehlungen zu psychischer Gesundheit und Wohlergehen im akademischen Sektor, und das MHFA-Programm wird in der Abhandlung eine wichtige Rolle einnehmen.“ In der Zwischenzeit haben auch Kolleg:innen des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig ein MHFA-Training absolviert. „Es gibt einen engen Austausch im Universitätsbund Halle – Jena – Leipzig“, freut sich Maria Langhammer, Koordinatorin der Jenaer Allianz von Graduiertenschulen „Life in Focus“, die nach ihrer Promotion in Leipzig nun an der Friedrich-Schiller-Universität im MHFA-Team ist. „Wir hoffen, dass das Jenaer MHFA-Projekt einen Multiplikatoreneffekt hat, so dass viele weitere deutsche Hochschulen dem Beispiel folgen und ein Mental Health First Aid-Team etablieren.“
Psychosoziale Beratungsdienste bekommen infolge der Pandemie und des aktuellen Kriegsgeschehens in Europa immer noch sehr viel mehr Anfragen als sie bewältigen können. An dieser Stelle kann ein psychisches Ersthilfeprogramm, das Teil einer Hochschulinfrastruktur ist, eine wichtige Unterstützerrolle spielen.