Anspruch und Realität der Juniorprofessur mit Tenure Track
Mit der Einführung der Juniorprofessur 2002 wurde auf die hinlänglich bekannten Probleme mit Karrierewegen im deutschen Wissenschaftssystem reagiert. Insbesondere „die lange Qualifikationsdauer des wissenschaftlichen Nachwuchses, die im internationalen Vergleich unzureichende Selbständigkeit der Postdoktorandinnen und Postdoktoranden“ sowie „das hohe Erstberufungsalter von Professorinnen und Professoren“ wurden als wesentliche Probleme in der Begründung zum entsprechenden Änderungsentwurf des Hochschulrahmengesetz 2001 identifiziert. Demgegenüber beabsichtigte man mit der Einführung der Juniorprofessur, frühere Karriereperspektiven hin zur Professur schaffen, das Erstberufungsalter senken und die frühere Selbstständigkeit in Forschung und Lehre befördern.
Im Jahr 2014 empfahl der Wissenschaftsrat dann auf Basis der breiten Kritik an mangelnden langfristigen Perspektiven für Juniorprofessor:innen ohne Tenure-Track, die Juniorprofessur zur Tenure-Track-Professur weiterzuentwickeln. Das in den Empfehlungen ausgesetzte Ziel: Bis 2025 sollte etwa ein Fünftel aller Professuren mit Tenure-Track versehen sein. In Reaktion darauf legte der Bund gemeinsam mit den Ländern ein Programm zur Förderung von Wissenschaftler:innen in der Qualifikationsphase auf, in dessen Rahmen mit einer Summe von einer Milliarde Euro bis 2032 die Einführung von 1.000 neuen Tenure-Track-Professuren gefördert werden soll. Die Vergabe der Mittel an die teilnehmenden Universitäten erfolgte 2017 und 2019 in zwei wettbewerblichen Bewilligungsrunden – sofern diese Regelungen für die universitätsinternen Verfahren und Strukturen für Tenure-Track-Professuren vorlegen konnten. Beabsichtigt wurde eine klarere Entfristungsperspektive für die Stelleninhaber:innen sowie mehr Transparenz und Orientierung durch die stärkere Regelung der Einstellungs- und Evaluationsverfahren.
Klare Perspektiven, mehr Orientierung, frühe Eigenständigkeit. Ausgehend von den politischen Zielen ihrer Ausgestaltung wäre zu erwarten, dass die Juniorprofessur mit Tenure Track durch ihre spezifische Struktur mit einem höheren Maß an Autonomie im Sinne einer größeren Eigenständigkeit einhergeht. In einer qualitativen Studie für eine Masterthesis im Fach Soziologie an der Goethe-Universität zeigt sich nun jedoch, dass für die Juniorprofessur mit Tenure Track problematische Einschränkungen der Selbstbestimmung ausgemacht werden können. Diese sind insbesondere auf das Instrument der Tenure-Track-Kriterien zurückzuführen. Während die eigene Autonomie durch die Stelleninhaber:innen meist nur situativ als eingeschränkt betrachtet wird, konnte in der Analyse gezeigt werden, dass die Tenure-Track-Kriterien sämtliche Entscheidungen der Stelleninhaber:innen beeinflussen. Aber stellt das aus den Kriterien erwachsende grundlegende Einflusspotenzial den Erfolg der politischen Absichten in Frage? Und was bedeutet dies konkret für die Arbeit der Juniorprofessor:innen mit Tenure Track?
Eine Studie zur Autonomie von Juniorprofessor:innen mit Tenure Track
Für das Jahr 2018 weist der Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs insgesamt 1.580 Juniorprofessor:innen an deutschen Hochschulen und gleichgestellten Institutionen aus, von denen über ein Drittel in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften angesiedelt waren und 276 über einen Tenure-Track im engen Sinne verfügten. Mit fünf Juniorprofessor:innen aus dem sozialwissenschaftlichen Fächerspektrum wurden in der thematisierten Studie narrativ-episodische Interviews geführt und diese mit der Grounded Theory analysiert. Die Besonderheit des Samples: Alle Interviewpartner:innen sind Juniorprofessor:innen mit Tenure Track, deren Stellen über das besagte Bund-Länder-Programm zur Förderung von Tenure-Track-Professuren mitfinanziert wurden.
In den Interviews sind zunächst Erwartungen und Anforderungen erfragt worden, welche die Stelleninhaber:innen an sich als Juniorprofessor:innen gerichtet sehen. Es zeigt sich, dass die eigenen und fremden Erwartungen nicht immer als miteinander vereinbar empfunden werden und sich daraus erwartungsbezogene Konflikte ergeben können. Diese Konflikte betreffen zahlreiche Aufgabenfelder und werden von den Interviewten verschieden verschiedentlich stark problematisiert. Besonders viele und stark problematisierte Konflikte sind allerdings den Bereichen Drittmitteleinwerbung und Publikation zuzuordnen, die in den Tenure-Track-Kriterien meist sehr prominent und mit konkreten Anforderungen verbunden sind.
Einschätzungen der Juniorprofessor:innen zur eigenen Autonomie
Alle Interviewten bringen zum Ausdruck, dass sie prinzipiell selbstbestimmt in den Entscheidungen über die inhaltliche Ausgestaltung ihrer Tätigkeit seien. Das betonen sie insbesondere im Vergleich zu anderen Berufen oder den Karrierephasen vor der Juniorprofessur. Die hohe wahrgenommene Autonomie führen die Stelleninhaber:innen besonders oft darauf zurück, dass man als Juniorprofessor:in keine:n direkte:n Vorgesetzte:n mehr habe. Damit zusammen hängt die als sehr groß wahrgenommene zeitliche Flexibilität: Als Juniorprofessor:in könnten sie selbst entschieden, wie viel Zeit für die Erfüllung einer Aufgabe aufgebracht und wann diese erledigt würde. Auch die Universitätsleitung und anderen Kolleg:innen hätten nur sehr bedingt direkten Einfluss auf ihre Arbeit – es bestünden abgesehen von den festgelegten Tenure-Track-Kriterien keine Möglichkeiten ihnen Weisungen zu erteilen oder sie zu sanktionieren.
Kritisch angemerkt wird allerdings, dass man im Aushandlungsprozess teilweise kaum Einflussmöglichkeiten darauf gehabt habe, was zum Erreichen des Tenure Tracks nachgewiesen werden muss. Auch monieren einige der Interviewten, dass der Evaluationskommission durch die zentral geregelten Vorgaben der Universität teilweise die Hände gebunden waren und so Fachspezifika wenig Berücksichtigung finden konnten. Die Kritik richtet sich ferner insbesondere gegen die teilweise sehr konkreten Festlegungen von Anforderungen in den Tenure-Track-Kriterien, wobei die Kriterien in Qualität und Umfang individuell stark variieren. Die interviewten Juniorprofessor:innen problematisieren vorwiegend Momente, in denen der eigene Gestaltungsspielraum, beispielsweise in Bezug auf die Wahl von Publikationsformaten, aus ihnen wenig sinnvoll erscheinenden Gründen eingeschränkt wird.
Den Evaluationskriterien schreiben die Interviewten subjektiv gleichzeitig durchaus einen großen Einfluss auf die eigenen Entscheidungen und Prioritätensetzungen zu. Eine Interviewpartnerin merkt etwa an, dass sie durch die Evaluationskriterien „eigentlich sozusagen eine ganz gute Orientierung“ habe, worauf sie in den sechs Jahren der W1-Professur ihren Fokus legen sollte – „im eigenen Interesse natürlich, damit ich weiterhin hier angestellt sein kann.“ Auf die Frage, wonach die Juniorprofessorin entscheiden würde, was sie (zuerst) mache, antwortet sie (wie andere Interviewte auch) dementsprechend: „natürlich auf Basis der Kriterien“. In den strategischen Entscheidungen spielen sie somit eine zentrale Rolle und haben einen wesentlichen Einfluss auf die Priorisierung der vielfältigen Aufgaben.
Identifizierte Probleme mit den Tenure-Track-Kriterien
In zahlreichen Interviewpassagen zeigt sich, dass es sich bei den Tenure-Track-Kriterien nicht nur im positiven Sinne um eine hilfreiche Orientierung, sondern gleichzeitig auch um schwer umgängliche Vorgaben handelt. So beschreiben Juniorprofessor:innen mehrfach, dass sie „eigentlich“ lieber anderes machen oder bestimmte Aufgaben anders oder nicht erfüllen würden, diese aber durch die Kriterien allgemein oder in bestimmter Form vorgegeben seien. Trotz des eigenen Konfliktempfindens und Problembewusstseins passen sie sich an die in den Kriterien gemachten Vorgaben an. Das wird etwa in Bezug auf die Drittmittel deutlich, die häufig eingeworben werden müssen, obwohl die Stelleninhaber:innen selbst keine durch ihre Forschung motivierte inhaltliche Notwendigkeit dazu sehen. Sie problematisieren ihre gestiegene Bedeutung und denken dabei weit über ihre eigene Situation hinaus: Drittmittelsummen seien der falsche Maßstab für die Bewertung von Qualität und es komme zu einer Verwechslung von Zweck und Mitteln, wenn diese als unbedingt erstrebenswert angepriesen würden. Dies widerspreche den Kernprinzipien von Wissenschaft und zeitige potenziell negative Folgen für die Forschung, wie einige Interviewpartner:innen kritisieren. Dennoch berichten sie alle, Drittmittel einwerben zu wollen, vor allem weil das in den Evaluationskriterien vorgesehen sei. Mit den Worten einer Interviewten: „Also es bleibt einem halt nichts übrig als Anträge zu schreiben“.
Auch bei publikationsbezogenen Angelegenheiten vermögen die Prämissen und Konsequenzen der in den Evaluationskriterien gestellten Anforderungen die eigenen Vorstellungen von Wissenschaft in Frage stellen. Die Befragten äußern etwa Zweifel daran, dass etwa der Fokus auf der Anzahl der Publikationen „Wissenschaft besser oder fundierter“ macht; vielmehr leide die Qualität darunter, dass „die Anreizstrukturen so sind, dass es vor allem darum geht viele Publikationen zu haben“. Und dennoch kommt es auch hier zu einer Anpassung an die in den jeweiligen Kriterien festgehaltenen Vorgaben.
Es wird deutlich, dass die persönliche Vorstellung der eigenen Arbeit und die Selbstansprüche für die Juniorprofessor:innen nicht immer mit den in den Evaluationskriterien festgehaltenen Anforderungen vereinbar sind. Wenn es andersherum gilt, Projekte anzugehen, die bei der Evaluationsentscheidung „nichts nützen“ oder „in dieses Schema nicht so gut rein pass[en]“ (etwa Studierende besonders gut zu betreuen oder bestimmte Publikationsformate zu wählen), werden diese Entscheidungen wohlüberlegt und der eigene Ressourceneinsatz sehr genau abgewogen.
Bei der Betrachtung der Umgangsweisen mit an sie gerichteten Erwartungen zeigt sich gerade im Fall konfligierender eigener und fremder Vorstellungen über die Arbeit der Juniorprofessor:innen, dass die Erfüllung der Kriterien „im eigenen Interesse“ an der positiven Endevaluation immer schwerer wiegt als andere Absichten und Ideale. Den Interviewten ist bewusst, dass alles, was in den Tenure-Track-Kriterien vereinbart wurde, in der Evaluation herangezogen und geprüft wird, ob sie in der Lage waren, diese zu erfüllen. Somit prägt die Gewissheit über die nachträgliche Bewertung der eigenen Arbeit anhand dieser Maßstäbe sämtliche Entscheidungen innerhalb der Bewährungsphase. Denn eine negative Zwischen- bzw. Endevaluation würde bedeuten, die angestrebte Berufung auf eine Lebenszeitprofessur zu verpassen. Die Juniorprofessor:innen sehen sich dementsprechend öfter gezwungen, Aufgaben zu priorisieren, die nicht der eigenen Prioritätensetzung entsprechen und solche hintenanzustellen, die ihnen eigentlich wichtig erscheinen.
Eine erfolgreiche und folgenreiche Anreizsetzung
Das Tenure-Track-Modell schafft eine interaktiv ausgehandelte und über die institutionelle Struktur vermittelte Anreizsetzung: Bei erfolgreicher Erfüllung der verhandelten Kriterien werden die Juniorprofessor:innen mit einer Lebenszeitprofessur belohnt. Das Versprechen einer Lebenszeitprofessur ist für Postdoktorand:innen ein besonders attraktiver Anreiz, denn angesichts des systemischen Missverhältnisses von vielen Qualifikant:innen zu den wenigen neu zu vergebenden Lebenszeitprofessuren sind die individuellen Chancen auf eine solche allgemein vergleichsweise gering. Die Juniorprofessor:innen mit Tenure-Track sind dieser Konkurrenzsituation durch die Aussicht auf Entfristung enthoben und müssen sich nicht mehr im Wettbewerb mit anderen, sondern nur anhand der eigenen Kriterien beweisen.
Die in den Kriterien verankerten Anforderungen und die damit verbundenen Aufgaben sind dafür jedoch nach der Verhandlung festgeschrieben. Sie könnten zwar jederzeit unterlaufen werden, doch die Juniorprofessor:innen haben praktisch nur dann Entscheidungsfreiheit, wenn sie bereit sind, die damit verbundenen Konsequenzen – im schlimmsten Fall das Verpassen der Lebenszeitprofessur – in Kauf zu nehmen. Autonome Entscheidungen sind daher nur innerhalb des durch die Kriterien gesetzten Rahmens möglich und scheinen sich weitestgehend auf die zeitlichen und inhaltlichen Freiheiten zu beschränken. Unabhängig davon dürften die relativ privilegierten Bedingungen im Vergleich zu anderen Karrierestufen und -wegen zur Lebenszeitprofessur darüber hinwegzutäuschen, dass mit der Festlegung der Kriterien in einer für die Wissenschaft unüblich konkreten Weise in die Autonomie von (einzelnen) Wissenschaftler:innen eingegriffen wird. Das ist besonders problematisch, da die Idee einer tatsächlichen Aushandlung der Kriterien in den allermeisten Fällen ebenfalls eine Illusion zu sein scheint: Letztlich verfügten die befragten Juniorprofessor:innen angesichts ihrer zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlungen prekären Stellensituation über wenig Verhandlungspotenzial und ihnen blieb oft keine andere Wahl, als die Vorschläge ihrer Institution anzunehmen und zu erfüllen. Statt der politisch beabsichtigten frühen Eigenständigkeit von Forscher:innen, entsteht vielmehr ein Anpassungsdruck. Die Kriterien werden unter allen Umständen erfüllt, um die eigene wissenschaftliche Karriere fortführen zu können und den Sprung auf die gut gesicherte Lebenszeitprofessur zu schaffen.
Die ambivalente Wirkung der Tenure-Track-Kriterien
Zusammengenommen ergeben die Einschätzungen der Juniorprofessor:innen und die Erkenntnisse aus der Analyse ihrer Umgangsweisen mit erwartungsbezogenen Konflikten ein überraschendes Bild: Die Juniorprofessur sollte die Eigenständigkeit in Forschung und Lehre befördern und der Tenure-Track sicherere Perspektiven schaffen. Mit den Tenure-Track-Kriterien wurde allerdings de facto eine wirksame Anreizsetzung kreiert, die es vermag durch die Zuordnung zur Gruppe der Hochschullehrenden geschaffene Selbstbestimmungskapazitäten teilweise wieder zu kassieren. Auch wenn die Kriterien den Stelleninhaber:innen in ihrer Selbstwahrnehmung eine größere Sicherheit und Orientierung bieten, werden mit der Festlegung von Evaluationskriterien sowohl die Wahl der Ziele als auch die Strategien zur Zielerreichung beeinflusst. Der Preis der empfundenen Orientierungswirkung scheint der Verzicht auf Grade der eigenen Selbstbestimmung zu sein – es werden von den Juniorprofessor:innen mit Tenure Track in ihrer ‚Bewährungsprobe‘ im Zuge der sechs Jahre in der Juniorprofessur vor allem Anpassungsleistungen an vorgegebene Ziele verlangt, die ihren persönlichen Vorstellungen der eigenen Arbeit mitunter widersprechen. Angesichts des zunehmenden Einsatzes von anreizbasierten Steuerungsinstrumenten in der Wissenschaft, wie etwa der leistungsorientierten Mittelvergabe, gewinnt die Frage an Bedeutung, welche systemischen Auswirkungen politische Gestaltungsentscheidungen zum Ausbau von Anreizstrukturen auf die Autonomie von Wissenschaftler:innen haben. Gerade anhand der Situation der Juniorprofessor:innen mit Tenure Track zeigt sich beispielhaft, dass es insbesondere konkrete Anforderungen gepaart mit einer hohen und aussichtsreichen Belohnung für die Anpassungsleistung schwieriger machen, diese in den eigenen Entscheidungen unberücksichtigt zu lassen. Noch weitgehend ungeklärt ist dabei, welche epistemologischen Konsequenzen sich hieraus ergeben und welchen Einfluss veränderte Steuerungsmechanismen auf die Forschungsinhalte haben.
Quellen:
Deutscher Bundestag (2001): Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes und anderer Vorschriften (5. HRGÄndG). Drs 14/6853. Online: https://dserver.bundestag.de/btd/14/068/1406853.pdf.
Gutjahr, C. (2023). „Und das ist nicht so ganz meine Logik“ – Juniorprofessor:innen der Sozialwissenschaften zwischen Autonomie und Heteronomie. Unv. Masterarbeit, Goethe Universität.
Gutjahr, Clara (2023): Das ‚Damoklesschwert‘ der Evaluation – Heteronomiepotenziale von Juniorprofessuren mit Tenure Track. In: Debatte. Beiträge zur Erwachsenenbildung. Jg. 6, Heft 1. (im Erscheinen)
Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (2021): Bundesbericht Wissenschaftli-cher Nachwuchs 2021. Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland. Bielefeld. Online: https://www.buwin.de/dateien/buwin-2021.pdf.
Wissenschaftsrat (2014): Empfehlungen zu Karrierezielen und -wegen an Universitäten. Drs. 4009-14. Dresden, Köln. Online: https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/4009-14.html.