Seit ihrer Veröffentlichung Ende September sorgt die Bayreuther Erklärung der Kanzlerinnen und Kanzler deutscher Universitäten für Aufregung. Die Twitter-Hashtags #BayreutherErklärung und – vor allem – #BayreutherBankrottErklärung bringen auf den Punkt, woran sich viele Wissenschaftler*innen stoßen: Die ausdrückliche Befürwortung befristeter Beschäftigungsverhältnisse in der Wissenschaft wirkt angesichts zahlreicher Nachteile eines unterfinanzierten Hochschulsystems, in dem ein Großteil der Daueraufgaben in Forschung und Lehre sowie in der Verwaltung von befristet angestelltem Personal übernommen wird, zynisch und aus der Zeit gefallen (vgl. schon die Stellungnahme der GEW). Denn die Zeichen weisen inzwischen in eine andere Richtung. Gerade erst hat die Politik im Rahmen der Neuauflage des Hochschulpakts begonnen die zur Verfügung stehenden Mittel zu verstetigen – und dies explizit, um mehr unbefristete Beschäftigungsverhältnisse zu ermöglichen. Die Antwort des BMBF auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Kai Gehring zur Bayreuther Erklärung bestätigt diese Intention der Bundesregierung.
Demgegenüber vertritt die Bayreuther Erklärung durch und durch die Idee der unternehmerischen Hochschule, die als vermeintlicher Königsweg – aufgrund der nur sehr bedingten Übertragbarkeit privatwirtschaftlicher Prozesse auf öffentliche Bildungsstätten und Forschungseinrichtungen mit ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung – ohnehin endlich einmal ernsthaft zu hinterfragen wäre. Folgende Punkte sind an der Bayreuther Erklärung besonders problematisch – und ihre Kritiker*innen vor allem auf Twitter sowie in der Stellungnahme des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) haben sie wiederholt genannt: Die Erklärung ist insgesamt hochgradig undifferenziert. Sie erweckt erstens den Anschein, als seien ihre auf Qualifikationsstellen befristet beschäftigten Mitarbeiter*innen reine Nutznießer*innen der Hochschule, und negiert damit völlig, dass die von diesen Personen geleistete Arbeit durchaus einen nicht zu vernachlässigenden Nutzen für die Hochschulen und die Gesellschaft hat. Die in der Qualifikationsphase entstehenden Monographien und Aufsätze dienen nicht nur dazu, dass sich ihr*e Verfasser*innen am Ende Dr. oder PD nennen können. Es handelt sich vielmehr um Beiträge, die in vielen Fällen ihr Fachgebiet voranbringen und nicht selten sogar Grundlagenforschung leisten. Die Mitarbeiter*innen auf Qualifikationsstellen haben in Lehre und Verwaltung entscheidenden Anteil daran, den Betrieb vor Ort aufrechtzuerhalten. Eine Ausbildung aller derzeit an den Hochschulen eingeschriebenen Studierenden wäre ohne ihre Arbeitsleistung schlicht nicht möglich.
Zweitens tut die Erklärung recht fahrlässig so, als seien von den Studienanfänger*innen im ersten Semester bis zu Habilitand*innen alle sich an der Hochschule (weiter-)qualifizierenden Personen mit einem Maß zu messen. Dem ist zurecht entschieden widersprochen worden: Es macht einen Unterschied, ob jemand an einer Hochschule studiert – und in manchen Fächern (aber wohlgemerkt nicht in allen!) schließt das das Promotionsstudium ein – oder ob eine Person an einer Hochschule angestellt ist. In ersterem Fall ist die Hochschule tatsächlich vor allem Ausbildungsstätte (oder, wenn man unbedingt will, „Qualifizierungssystem“). Im zweiten Szenario gilt dies indes nur unter anderem: Hier werden Arbeitsleistungen erbracht und entgeltlich vergütet (!), die auch weiterqualifizierenden Charakter haben, deren Wert sich aber bei weitem nicht darin erschöpft. Dass die Bayreuther Erklärung hier eine Einbahnstraße sieht, wo eigentlich reger Verkehr in beide Richtungen herrscht, zeugt von wenig Wertschätzung für die Arbeitsleistung der Mitarbeiter*innen – und zwar ganz unabhängig von pekuniären Aspekten.
Hinzu kommt drittens, dass aus gutem Grund gefragt worden ist, für welche Position in der Wirtschaft denn eigentlich die Habilitation qualifiziert (Antwort: keine). Im Gegensatz zum Wortlaut der Bayreuther Erklärung dürfte es für die Beseitigung des Fachkräftemangels sogar zweckmäßiger sein, die ausgebildeten Personen möglichst rasch, also direkt nach ihrem Studium in die Unternehmen zu ‚entlassen‘ statt sie noch weitere sechs oder gar zwölf Jahre an den Universitäten zu beschäftigen und sie dort Qualifikationen erwerben zu lassen, die außerhalb der Wissenschaft keinen oder nur geringen Mehrwert haben. Spätestens nach der Promotion dient die wissenschaftliche Weiterqualifikation nicht der Wirtschaft und auch nicht den Einzelnen, sondern schlicht und ergreifend der Aufrechterhaltung des eigenen Systems.
Dass sie diesen Umstand ignoriert, ist der blinde Fleck der Bayreuther Erklärung wie der bisherigen Reaktionen auf die vorgebrachten Kritikpunkte. Der Bundessprecher der Vereinigung der Kanzlerinnen und Kanzler – selbst Kanzler der Universität Ulm – Dieter Kaufmann hat sich bereits zweimal im Interview mit der Kritik an der Bayreuther Erklärung auseinandergesetzt, zuletzt am 24. Oktober 2019 in der Süddeutschen Zeitung, wo er die Positionen der Erklärung verteidigt und betont, diese seien „von vielen falsch verstanden“ worden. Wenn die Bayreuther Erklärung tatsächlich missverstanden worden wäre, hätte es sich an dieser Stelle angeboten eine Richtigstellung vorzunehmen. Eine solche freilich sucht man in dem Interview vergebens. Stattdessen betont Kaufmann noch einmal die Relevanz befristeter Verträge in der Wissenschaft und wiederholt so im Wesentlichen die Aussagen der Bayreuther Erklärung. Schließlich findet sich der oft vorgebrachte Hinweis, wer in die Wissenschaft gehe, müsse wissen, worauf er sich einlasse, und solle eben „andere Berufswege“ einschlagen, wenn er mit den dort gebotenen „Rahmenbedingungen und befristeten Arbeitsverhältnissen nicht einverstanden ist.“
Dies mag angesichts der gegebenen Lage in der Tat ein gut gemeinter Rat an Einzelne sein, ist aber sicher nicht im Interesse der Wissenschaft und ihrer Beschäftigten. Denn gerade hier wird das andere Kernproblem der Bayreuther Erklärung besonders deutlich: Sie zeichnet nicht nur ein verzerrtes Bild von der Realität vieler Wissenschaftler*innen, sondern sie nimmt die konstatierte Situation außerdem einfach hin. Folglich kann sie ihre Kritiker*innen auf nichts als die Möglichkeit des Systemausstiegs verweisen. Mit dieser recht hilflosen Reaktion wird freilich die Chance vertan, eine zeitgemäße Personalpolitik ins Auge zu fassen und von der Politik die Rahmenbedingungen einzufordern, mit der sich eine solche realisieren lässt. Schlimmer noch: Ein derartiger Ansatz leitet die Selbstbeschreibung der Hochschule (als „Qualifizierungssystem“) aus einem defizitären Ist-Zustand ab, auf den die Universitäten selbst keinen Einfluss haben bzw. zu haben meinen. Wenn das stimmt, hätten die Hochschulen längst jeden Anspruch auf eigenständige Bestimmung ihres Kerngeschäfts fallen gelassen und wären in dieser Hinsicht völlig von wissenschaftsexternen Faktoren abhängig. Kann das wirklich der Eindruck sein, den wir alle, die Kanzlerinnen und Kanzler eingeschlossen, der Öffentlichkeit von unseren Universitäten vermitteln wollen?
Nichts spricht gegen Klarstellungen und alternative Positionierungen. Im Gegenteil: Eine konstruktive Auseinandersetzung mit den bisherigen Stellungnahmen aus Sicht der Kanzlerinnen und Kanzler würde die Debatte vertiefen und bereichern. Aber es müssen differenzierte und in sich stimmige Argumente sein, die hier vorgebracht werden – Argumente, die die alltäglichen Probleme der an den Universitäten Angestellten ernstnehmen und die Zuständigkeiten nicht pauschal entweder an das Individuum oder die Gesamtgesellschaft zurückspielen. Nur eine kenntnisreiche inhaltliche Beschäftigung mit der an der Bayreuther Erklärung vorgebrachten Kritik (und diese ist z. T. inzwischen sehr differenziert geworden) ist überdies einer akademischen Diskussion würdig und führt in der Sache weiter. Das sollte im gemeinsamen Interesse der Kanzlerinnen und Kanzler wie aller an den Universitäten Beschäftigten und letztlich auch der Studierenden sein. Wo „die Gesellschaft“ verantwortlich ist, ist niemand verantwortlich. Diese Konsequenz der Bayreuther Erklärung gilt es zu bedenken, wenn man sie verteidigt.